Am 14. Mai wurde in Bremen eine neues Bürgerschaft gewählt. Die Landeswahl im Bundesland mit der höchsten Armutsquote der Bundesrepublik hat einige interessante Ergebnisse gebracht. Diese wollen wir hier betrachten.

Die Wahlbeteiligung

Die Entwicklung der Wahlbeteiligung lässt sich vor allem in einer Aussage auf den Punkt bringen: Es geht abwärts. Im Bundesland Bremen (also Stadt Bremen plus Bremerhaven) beteiligten sich gerade einmal 56,8 Prozent1 der Wahlberechtigten an dem Wahlzirkus. Das ist eine durchschnittliche Abnahme von 7,2 Prozent2. Dazu kommen 2,6 Prozent3 ungültige Stimmen, die zwar als Wahlbeteiligung zählen, aber keiner Partei zugerechnet werden, was bedeutet, dass insgesamt 59,4 Prozent der Wahlbeteiligten ihre Stimme keiner der bürgerlichen Parteien gegeben haben. Diese Zahlen bezeichnen allerdings einen sehr groben Durchschnitt durch das gesamte Bundesland.

Ein differenzierteres Bild ergibt sich wenn man die Stadt Bremen und Bremerhaven getrennt betrachtet. So ist die Wahlbeteiligung in Bremerhaven insgesamt 15,5 Prozentpunkte niedriger als in Bremen Stadt (Bremerhaven 44,0%; Bremen Stadt: 59,5%)4. Das heißt in Bremerhaven, das in der bürgerlichen Statistik immer wieder als ärmste Region Deutschlands hervorgehoben wird, beteiligen sich nicht einmal mehr die Hälfte der Bevölkerung an den Wahlen der Bourgeoisie. Sie haben in dieses System keine Erwartungen mehr.

Hervorzuheben in Fragen der Wahlbeteiligung sind einige Gegenden Bremerhavens und Bremens. Während die Statistik für die Stadtteile aufgrund der relativen „sozialen Durchmischung“, die die Bourgeoisie anstrebt, als Teil der strategischen Aufstandsbekämpfung, gibt der Blick in die Ortsteile ist wesentlich detaillierter. In Bremen haben einige Ortsteile im Arbeiterviertel Gröpelingen eine Wahlbeteiligung von 24,2 Prozent, eine Wahlbeteiligung um die 40 Prozent ist hier normal (Durchschnitt im Stadtteil: 42,5%). Im Arbeiterviertel Tenever waren nur knapp ein Drittel (32,4%) der Menschen wählen.5

Wahlbeteiligung Ortsteile 2023Wahlbeteiligung 2023 in Bremen und Bremerhaven nach Ortsteilen

In Bremerhaven erreicht kein Stadtteil eine Wahlbeteiligung von 60 Prozent, unter den Ortsteilen ist es nur das passenderweise Speckenbüttel benannte Viertel mit 68 Prozent. Das Arbeiterviertel Goethestraße erreicht nicht einmal ein Drittel Wahlbeteiligung (29,8%). Dabei ist anzumerken, dass hier auch zusätzlich noch eine große Anzahl Menschen wohnt, die nicht einmal über das Recht verfügen zu wählen, da sie keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Die tatsächliche Wahlbeteiligung würde also noch einmal niedriger liegen. Vier weitere Ortsteile erreichen auch nicht die 40 Prozent Wahlbeteiligung. Wie der Durchschnitt bereits gezeigt hat lehnen in Bremerhaven inzwischen über die Hälfte der Bevölkerung die bürgerlichen Wahlen ab und machen die Farce nicht mit.6

Dabei ist hervorzuheben, dass es im gesamten Bundesland Bremen nicht einen einzigen Stadtteil und sogar nicht einen einzigen Ortsteil gibt, in dem die Wahlbeteiligung zugenommen hat oder gleich geblieben ist. Überall hat die Wahlbeteiligung abgenommen, sogar in den Vierteln Reichen und in den kleinbürgerlich geprägten Vierteln haben alle Wahlkampagnen der Bourgeoisie nichts genutzt. Die Rückgang der Wahlbeteiligung liegt in den Stadtteilen zwischen 6 und 16,7 Prozentpunkten.7 Ein weiterer Ausdruck davon, dass die Ablehnung der Wahlen und der bürgerlichen Parteien sich inzwischen über die Grenzen der tiefsten und breitesten Massen hinaus ausgebreitet hat

Veränderung Wahlbeteiligung 2019 2023Veränderung der Wahlbeteiligung der Bürgerschaftswahl 2019 zu 2023 in den Ortsteilen

Nachdem sich diese stark gesunkene Wahlbeteiligung abzeichnete suchten die bürgerlichen Parteien und Medien sofort nach Ausreden und vermeintlichen Begründungen. Dazu muss gesagt werden, dass in Bremen das Wahlalter bereits seit Jahren auf 16 gesenkt ist, und somit die Zahl der Wahlberechtigten stark erhöht wurde. Aber selbst die Jugend wird jetzt nur früher von den Volkszertretern betrogen und lehnt darum zunehmend die Wahlen ab, auch wenn Fridays for Future und andere Mobilisierungen (vor allem geführt durch die Grünen) versuchen die Jugend zu den Wahlen zu mobilisieren.

Die vermeintliche Begründung, dass dieses Mal die Europawahl nicht als mobilisierender Faktor gedient hat, ist an den Haaren herbeigezogen. Die letzte Bürgerschaftswahl in Bremen fiel zwar mit der Europawahl zusammen und die Wahlbeteiligung bei dieser lag bei 61,5 Prozent. Der Mobiliserungsfaktor war hier aber wohl eher umgekehrt, so dass die Bürgerschaftswahl sich steigernd auf die Europawahl auswirkte (was auch die ähnlich hohe Wahlbeteiligung erklären würde). So hat seit der Europawahl von 1994 keine einzige Wahl dieser Art eine Wahlbeteiligung von 50 Prozent erreicht – außer eben die von 2019.8

Es ist also mehr als deutlich, dass die Ablehnung der Wahlen in Bremen auf allen Ebenen zugenommen hat. Die Bereitschaft des Volkes sich am Wahlzirkus zu beteiligen schwindet weiter und die Maßnahmen der Bourgeoisie ihren Parlamentarismus künstlich zu beatmen zerschellen an der Realität der Klassen, in einem sterbenden System, das sich in seiner letzten Krise befindet.

Die bürgerlichen Parteien

Auf der Grundlage des oben gesagten ist erst einmal deutlich festzustellen, dass die stärkste „Partei“ der diesjährigen Bürgerschaftswahlen offensichtlich die Nichtwähler waren. Jede Aussage über die Stimmenanteile und etwaige Stimmengewinne und -verluste steht also insgesamt unter dem Eindruck, dass fast 45 Prozent der Wahlberechtigten jede der bürgerlichen Parteien ablehnt. Entsprechend hat keine Landesregierung die gebildet werden wird, die Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung und wird somit unter einem schlechten Stern geboren.

Über die tatsächlichen Wahlergebnisse der bürgerlichen Parteien lässt sich aber aufgrund des mehr als undurchsichtigen Wahlsystems in Bremen wenig sagen. Jeder Wähler verfügt über fünf Stimmen, die er nach eigenem Willen auf unterschiedliche Parteien und/oder einzelne Kandidaten verteilen kann. Deutlich ist dennoch der Verlust der Grünen an Stimmen, mit einem Verlust von 5,5 Prozent im Vergleich zur vorigen Bürgerschaftswahl.9 Dies ist ein Ausdruck davon, dass sich die Wählerbasis weiter von der Parteiführung entfremdet. Gründe dafür sind sicherlich die erst kürzlich bekannt gewordenen „Skandale“ („offengelegte Selbstverständlichkeiten“ wäre vielleicht der bessere Ausdruck) auf Bundesebene, im Bezug auf die sogenannte Vetternwirtschaft (man könnte sagen Korruption) im von den Grünen geführten Wirtschaftsministerium, aber auch das offene Auftreten der grünen Spitzen zu Militaristen und Kriegstreibern im Zuge der imperialistischen Aggression Russlands gegen die Ukraine. Aber in Bremen hat besonders die Spitzenkandidatin der grünen Partei die Entfremdung der Partei zu großen Teilen der Bevölkerung, durch unterschiedliche unpopuläre Maßnahmen, vorangetrieben, die Ernennung Maike Schaefers zur Spitzenkandidatin war so schon ein schwerwiegender Fehler der Bremer Grünen – ist aber nur ein Ausdruck einer tiefer liegenden Problematik der bürgerlichen Parteien insgesamt.

Bremen Wahlboykott 2023 5

Die andere Besonderheit, die bundesweit für Aufmerksamkeit gesorgt hat ist das „durch die Decke gehen“ der „Bürger in Wut“ (BIW) mit 9,4 Prozent der Stimmen im Bundesland. In Bremerhaven sogar 22,7 Prozent (in der Stadt Bremen 7,4 Prozent).10 Besonders in der Stadt Bremen lässt sich dies vor allem mit dem Ausschluss der AfD von den Wahlen erklären, da die BIW ähnliche Positionen vertreten. In Bremerhaven ist die Situation allerdings anders. Hier haben die BIW seit ihrer Gründung 2004 eine systematische Arbeit betrieben sich als „Protestpartei“ zu etablieren. Auch bei dieser Wahl trat ihr Spitzenkandidat Jan Timke mit der Parole „ER hat EUCH nicht belogen“ an. Während des Corona-Ausnahmezustands hat die Partei sich konsequent versucht als Opposition zu den großen Parteien darzustellen und ihre Basis zu vergrößern. Deutlich muss hier durch die Revolutionäre gezeigt werden „Er hat euch NOCH nicht belogen“ – vor allem weil er noch nicht die Chance dazu hatte. Wenn diese Partei ihr Pulver nach dieser Legislaturperiode verschossen hat und klar und deutlich gezeigt hat, dass sie nur eine bürgerliche Partei ist wie jede andere auch und nicht dem Volke dient, wird auch ein Teil dieser Wählerbasis frustriert werden. Besonders die chauvinistischen Positionen der BIW müssen konsequent demaskiert werden, um keine weitere Spaltung der Arbeiterklasse zu erlauben. Die BIW konnte allerdings für die Bourgeoisie nicht die Rolle spielen, wie sie die AfD die letzten Jahre gespielt hat, indem sie neue Teile der Nichtwähler an die Urnen brachte und so Legitimationskrise der bürgerlichen Demokratie entgegenwirkte.

Nur am Rande sei bemerkt, dass die SPD ihre Wählerschaft nicht auf der Grundlage ihres Wahlprogramms gewonnen hat, sondern vor allem auf dem Bekanntheitsgrad des amtierenden Bürgermeisters.

Die Frage für die künftige Regierung ist jetzt, ob die SPD ihre alten Koalitionspartner übers Ohr haut, so wie sie es in Berlin nach der Wahlwiederholung getan hat, und mit der CDU eine lokale „GroKo“ bilden will, um eine möglichst stabile „Einheitspartei“ der Bourgeoisie zu bilden und damit etwas von ihrem „linken“ Image in Bremen aufgibt oder ob sie es wagt mit den geschwächten Bremer Grünen und einer Linkspartei, die sich auf Bundesebene im Auflösungsprozess befindet und mit einer wahrscheinlichen Parteigründung von Sahra Wagenknecht noch schneller auflösen wird, wieder zu verbünden. Die Linkspartei wird auf jeden Fall für große Kompromisse bereit sein, da für ihre Bedeutung viel an Bremen hängt. Nachdem sie in Berlin von der SPD verraten wurde, hatte sie neben Thüringen nur noch in Bremen nennenswerte Regierungsbeteiligung mit zwei Senatorenposten. So oder so wird es eine Menge Widersprüche in der neuen Landesregierung geben.

Bremen Wahlboykott 2023 1

 

Der Wahlboykott

Alles was von den proletarischen Revolutionären in der BRD über die Krise der Demokratie bereits gesagt wurde, hat sich in dieser Bürgerschaftswahl wieder bestätigt. Besonders der Wahlboykott und seine strategische Bedeutung zeigen ihre Richtigkeit ein weiteres Mal. Das wird auch besonders deutlich in einem Bericht des Lokalfernsehens, der sich hier ansehen lässt. Die Aussagen in den Berichten bestätigen, was das Rote Frauenkomitee Bremen in seinem Flugblatt als Teil der Mobilisierung zum Wahlboykott schreibt. Die Straßen waren auch wieder gesäumt von zahlreichen zerstörten Wahlplakaten, die den Hass der Massen auf die bürgerlichen Wahlen ausdrücken. Die Versuche der Revisionisten und Opportunisten die Massen an die Wahlurnen zurück zu zerren, sind also nichts anderes als eine Dienst an der Bourgeoisie. In keiner Weise dient es der Verbindung mit den tiefsten und breitesten Massen, denn diese wählen zunehmendselber nicht. Der Acker ist fruchtbar, es liegt an den Revolutionären weiter zu sähen und die Ernte einzufahren.

Bremen Wahlboykott 2023 4

 

Bremen Wahlboykott 2023 3


3https://www.wahlen-bremen.de/Wahlen/2023_05_14/ergebnisse_land_04.html; Stand 18.05.2023
4https://www.wahlen-bremen.de/Wahlen/2023_05_14/ergebnisse_gemeinde_04011000.html#id_id_feb34e57_e04d_4c48_8ce6_923dea85ad48; Stand 18.05.2023 / https://www.wahlen-bremen.de/Wahlen/2023_05_14/ergebnisse_gemeinde_04012000.html; Stand 18.05.2023
5https://www.statistik-bremen.de/Tabellen/Wahlen/WahlatlasBuergerschaft2023_Ortsteile/BremerWahlatlasI.html; Stand 18.05.2023
8https://www.wahlen.bremen.de/sixcms/media.php/13/EuW_Wahlbeteiligung_Altersgruppen_Geschlecht_1979-2019.pdf
 
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