Wir spiegeln hier die deutsche Übersetzung eines Artikels von Arundhati Roy die auf zeit.de erschienen ist und englischer Originalfassung in der Financial Times erschien.

Durch das Tor des Schreckens

Wer kann noch den Begriff "viral gehen" verwenden, ohne dass es ihn leicht schaudert? Wer kann noch irgendetwas betrachten – einen Türgriff, einen Karton, eine Tüte Gemüse –, ohne sich vorzustellen, wie es darauf von diesen unsichtbaren, nicht toten, nicht lebendigen, mit Saugnäpfen übersäten formlosen Tüpfelchen wimmelt, die nur darauf warten, sich in unserer Lunge festzusetzen? Wer kann noch daran denken, wie er einen Unbekannten küsst, in den Bus steigt oder sein Kind zur Schule schickt, ohne dabei wirklich Angst zu bekommen? Wer kann an ganz alltägliche Freuden denken, ohne dabei die Risiken abzuwägen? Wer von uns ist kein Möchtegern-Epidemiologe, -Virologe, -Statistiker und -Prophet? Welcher Wissenschaftler oder Arzt betet nicht insgeheim für ein Wunder? Welcher Priester sucht – zumindest insgeheim – sein Heil nicht bei der Wissenschaft? Und wer freut sich, auch wenn sich das Virus weiter ausbreitet, nicht unbändig über das zunehmende Vogelgezwitscher in den Städten, die an Straßenkreuzungen tanzenden Pfauen und die Stille am Himmel?  

Das Virus hat sich ungehindert entlang der Wege von Handel und internationalem Kapital bewegt. Wegen der furchtbaren Krankheit, die es mit sich gebracht hat, sitzen Menschen in ihren Ländern, ihren Städten und ihren Wohnungen fest. Doch anders als die Kapitalströme strebt dieses Virus nach Ausbreitung, nicht nach Profit. Und so hat es ungewollt die Fließrichtung umgekehrt. Es spottet aller Einwanderungskontrolle, Biometrik, digitalen Überwachung und jeder sonstigen Art Datenanalyse, hat – bisher – die reichsten, mächtigsten Nationen der Welt am härtesten getroffen und so den Motor des Kapitalismus plötzlich zum Stillstand gebracht. Vielleicht nur vorübergehend, aber zumindest so lange, dass wir uns dessen Bestandteile genau ansehen, uns ein Urteil bilden und entscheiden können, ob wir bei der Reparatur helfen oder uns lieber nach einer besseren Maschine umsehen möchten.

Die Offiziellen, die versuchen, diese Pandemie in den Griff zu bekommen, sprechen von Krieg. Dabei nehmen sie den Begriff nicht einmal im übertragenen Sinne, sondern meinen ihn ganz wörtlich. Aber würde es sich wirklich um einen Krieg handeln, wer wäre dann besser vorbereitet als die USA? Würden ihre Frontsoldaten nicht Handschuhe und Schutzmasken benötigen, sondern Gewehre, gelenkte Bomben, Bunkerbrecher, U-Boote, Kampfflugzeuge und Atombomben, gäbe es dann Engpässe?  

Abend für Abend sehen sich einige von uns vom anderen Ende der Welt aus die Pressekonferenzen des Gouverneurs von New York an und sind auf eine schwer erklärliche Weise gebannt. Wir verfolgen die Entwicklung der Statistiken und hören Berichte über überforderte Krankenhäuser in den USA, über unterbezahlte, überarbeitete Pflegekräfte, die Schutzmasken aus Müllsäcken und alten Regenjacken herstellen müssen, die alles aufs Spiel setzen, um den Kranken zu helfen. Berichte über Bundesstaaten, die gezwungen sind, gegeneinander um Beatmungsgeräte zu bieten, über Ärzte, die entscheiden müssen, welche Patienten an ein Beatmungsgerät angeschlossen werden und welche man sterben lässt. Und wir sagen uns: "Du meine Güte! Das in Amerika!"  

Vor unseren Augen spielt sich eine Tragödie ab: unmittelbar, real, von gewaltigem Ausmaß. Neu aber ist sie nicht. Es sind die Trümmerteile eines Zugs, der schon seit Jahren auf diesem Gleis dahinrast. Wer erinnert sich nicht an die Videoaufnahmen vom "patient dumping" – kranke Menschen, nackt bis auf einen Krankenhauskittel, die heimlich an Straßenecken abgeladen wurden? Die Türen der Krankenhäuser waren den weniger bemittelten US-Bürgern viel zu oft verschlossen. Es spielte keine Rolle, wie krank sie waren oder wie sehr sie litten. Zumindest bis jetzt nicht – denn jetzt, im Zeitalter des Virus, kann sich das Erkranken eines armen Menschen auf die Gesundheit einer wohlhabenden Gesellschaft auswirken. Und doch gilt Bernie Sanders, der Senator, der sich unablässig für eine Gesundheitsversorgung aller Menschen einsetzt, im Kampf um den Einzug ins Weiße Haus auch jetzt noch als Außenseiter – sogar in seiner eigenen Partei.  

Und was ist mit meinem Land, dem an Armen reichen Indien, das irgendwo zwischen Feudalherrschaft und religiösem Fundamentalismus, Kastensystem und Kapitalismus hängt und von rechten Hindu-Nationalisten regiert wird? Im Dezember, als China in Wuhan den Ausbruch des Virus bekämpfte, befasste sich die Regierung Indiens mit dem Massenaufstand Hunderttausender Bürger. Sie protestierten gegen ein unverhohlen diskriminierendes Gesetz zur Staatsbürgerschaft, das Muslime benachteiligt und gerade im Parlament verabschiedet worden war.  

Der erste Covid-19-Fall wurde in Indien am 30. Januar gemeldet, wenige Tage, nachdem der Ehrengast unserer Republic Day Parade, der Amazonas-Zerstörer und Covid-Leugner Jair Bolsonaro, wieder aus Delhi abgereist war. Doch im Februar war zu viel zu tun, als dass die Regierungspartei dem Virus in ihrem Terminplan hätte Platz einräumen können. So war etwa für die letzte Monatswoche der Staatsbesuch von Präsident Donald Trump angesetzt, den man mit der Aussicht auf ein Publikum von einer Million Menschen in einem Stadion im Bundesstaat Gujarat geködert hatte. Das alles kostete Geld und sehr viel Zeit.  

Dann gab es die Regionalwahlen in Delhi, die die regierende Bharatiya Janata Party (BJP ) aller Voraussicht nach verlieren würde, sollte sie sich nicht ins Zeug legen – was sie auch tat: Sie entfachte einen bösartigen, hemmungslosen hindu-nationalistischen Wahlkampf, in dem körperliche Gewalt und das Erschießen von "Verrätern" angedroht wurden.  

Verloren hat sie trotzdem. Also mussten Delhis Muslime bestraft werden, denen man die Schuld an der Blamage gab. Bewaffnete Mobs aus hinduistischen Bürgerwehren griffen mit Unterstützung der Polizei Muslime in den Arbeitervierteln im Nordosten Delhis an. Wohnhäuser, Geschäfte, Moscheen und Schulen wurden in Brand gesteckt. Die Muslime, die mit dem Übergriff gerechnet hatten, setzten sich zur Wehr. Über 50 Menschen, Muslime und einige Hindus, kamen ums Leben. Tausende zogen in die Flüchtlingslager auf den örtlichen Friedhöfen. Es wurden noch immer verstümmelte Leichen aus den dreckigen, stinkenden Abwasserkanäle gezogen, als Regierungsvertreter das erste Treffen zum Thema Covid-19 abhielten und die meisten Inder zum ersten Mal von etwas hörten, das sich "hand sanitiser" ("Handdesinfektionsmittel") nannte.  

Die Massenwanderungen der Arbeiter

Auch im März war einiges los. Die ersten beiden Wochen waren ganz dem Sturz der Kongressregierung im zentralindischen Bundesstaat Madhya Pradesh und dem Einsetzen einer BJP-Regierung gewidmet. Am 11. März erklärte die Weltgesundheitsorganisation Covid-19 zur Pandemie. Zwei Tage später, am 13. März, ließ das indische Gesundheitsministerium verlauten, es handele sich "nicht um einen gesundheitlichen Notstand". Am 19. März wandte sich dann schließlich der Premierminister, Narendra Modi, an die Nation. Viel Hausaufgaben hatte er nicht gemacht: Er guckte sich die Vorgehensweisen einfach bei Frankreich und Italien ab. Er erklärte uns die Notwendigkeit des "Social Distancing" (leicht nachvollziehbar für eine Gesellschaft, die derart vom Kastensystem durchdrungen ist) und rief eine eintägige "Ausgangssperre des Volkes" für den 22. März aus. Darüber, was seine Regierung angesichts der Krise zu tun gedachte, sagte er nichts. Doch er forderte die Menschen auf, auf ihre Balkons zu kommen und Glocken zu läuten und auf Töpfe zu schlagen, um dem medizinischen Personal die Ehre zu erweisen. Er erwähnte nicht, dass Indien bis zu diesem Moment Schutzbekleidung und Beatmungsgeräte exportiert hatte, statt sie für das medizinische Personal und die Krankenhäuser des Landes zu behalten.  

Es verwundert nicht, dass Modis Appell begeistert aufgenommen wurde. Es gab Märsche, bei denen die Teilnehmer auf Töpfe schlugen, Volkstänze und Prozessionen. Nicht gerade Social Distancing. In den Tagen darauf sprangen Männer in Fässer voller heiligem Kuhdung, und Anhänger der Regierungspartei BJP gaben Partys, bei denen Kuh-Urin getrunken wurde. Zahlreiche muslimische Organisationen wollten sich nicht übertrumpfen lassen: Sie erklärten, der Allmächtige sei die Antwort auf das Virus, und riefen die Gläubigen auf, in großer Zahl in die Moscheen zu kommen.  

Am 24. März um 20 Uhr trat Modi erneut im Fernsehen auf und gab bekannt, dass ab Mitternacht für ganz Indien ein Lockdown gelte. Die Märkte würden geschlossen. Öffentlicher und Individualverkehr würden untersagt. Wie Modi erklärte, traf er diese Entscheidung nicht nur als Premierminister, sondern auch als unser Familienältester. Wer sonst könnte ohne Rücksprache mit den Bundesstaaten, die sich mit den Folgen würden auseinandersetzen müssen, bestimmen, dass eine Nation von 1,38 Milliarden Menschen in den Lockdown gehen soll – ohne jegliche Vorbereitung und innerhalb von vier Stunden? Seine Methoden vermitteln entschieden den Eindruck, dass Indiens Premierminister die Bürger für eine feindliche Macht hält, die man überrumpeln und überraschen muss und der auf keinen Fall zu trauen ist.  

Wir gingen also in den Lockdown. Viele medizinische Fachkräfte und Epidemiologen haben dies gelobt. Vielleicht hatten sie damit theoretisch auch recht. Aber sicher kann keiner von ihnen den katastrophalen Mangel an Planung und Vorbereitung gutheißen, durch den das umfangreichste, strengste Lockdown der Welt genau das Gegenteil von dem verursachte, was beabsichtigt war.  

Der Mann, der Spektakel liebt, verursachte das ultimative Spektakel.  

Während eine entsetzte Welt zuschaute, offenbarte sich Indien in seiner ganzen Schande – seiner brutalen strukturellen, sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit, seiner Gefühllosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber Leid. Der Lockdown funktionierte wie ein chemisches Experiment, bei dem Verborgenes plötzlich sichtbar wird. Geschäfte, Lokale, Fabriken und der Bausektor wurden geschlossen, und während sich Wohlhabende und Mittelschichten in ihre geschlossenen Wohnanlagen zurückzogen, fingen unsere Städte und Megastädte an, ihre Einwohner aus der Arbeiterschicht, die Wanderarbeiter, auszustoßen wie unerwünschte Substanzen. Viele wurden von Arbeitgebern und Vermietern vertrieben. Millionen verarmter, hungriger, durstiger Menschen, Junge und Alte, Männer, Frauen, Kinder, kranke Menschen, blinde Menschen, Menschen mit Behinderungen, die sonst nirgendwo hinkonnten und keine öffentlichen Verkehrsmittel zur Verfügung hatten, machten sich auf den langen Fußmarsch nach Hause in ihre Dörfer. Tagelang marschierten sie, von Delhi aus in Richtung Badaun, Agra, Azamgarh, Aligarh, Lucknow, Gorakhpur – Hunderte Kilometer weit. Einige von ihnen starben unterwegs.  

Ihnen war klar, dass sie zu Hause womöglich langsam verhungern würden. Vielleicht war ihnen auch klar, dass sie möglicherweise das Virus mitbringen und ihre Familie anstecken würden, ihre Eltern und Großeltern in der Heimat. Doch sie brauchten so dringend ein kleines bisschen Vertrautheit, Unterschlupf und Würde, außerdem Essen, wenn nicht gar Liebe. Einige wurden unterwegs brutal zusammengeschlagen und gedemütigt von der Polizei, die Befehl hatte, die Ausgangssperre streng durchzusetzen. Junge Männer wurden gezwungen, sich hinzuhocken und wie Frösche auf der Autobahn zu hüpfen. Vor der Stadt Bareilly wurde eine Gruppe zusammengetrieben und mit einem Desinfektionsmittel besprüht. Die Regierung befürchtete, die flüchtenden Menschen würden das Virus in die Dörfer tragen. Und so schloss sie ein paar Tage später die Grenzen zwischen den Bundesstaaten sogar für Menschen, die zu Fuß unterwegs waren. Menschen, die schon einen tagelangen Marsch hinter sich hatten, wurden gestoppt und mussten in Lager in den Städten zurückkehren, die sie gerade zwangsweise verlassen hatten.  

Bei älteren Menschen weckte dies Erinnerungen an den Bevölkerungsaustausch im Jahr 1947, als Indien geteilt wurde und Pakistan entstand. Nur vollzog sich die jetzige Massenflucht aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht und nicht aufgrund von Religion. Doch dies waren noch nicht einmal die ärmsten Menschen Indiens. Dies waren Menschen, die (zumindest bis jetzt) Arbeit in der Stadt und ein Zuhause hatten, in das sie zurückkehren konnten. Die Arbeitslosen, die Heimatlosen und die Verzweifelten blieben, wo sie waren, in den Städten und auf dem Land, wo schon lange vor dieser Tragödie die tiefe Not immer mehr zunahm. Innenminister Amit Shah ließ sich während dieser furchtbaren Tage kein einziges Mal in der Öffentlichkeit blicken.  

Als die Massenwanderungen in Delhi anfingen, konnte ich mit dem Presseausweis einer Zeitschrift, für die ich häufig schreibe, nach Ghazipur fahren, das an der Grenze zwischen Delhi und dem benachbarten Bundestaat Uttar Pradesh liegt. Die Szenerie war biblisch. Oder vielleicht auch nicht, selbst in der Bibel kommen solche Menschenmengen nicht vor. Der Lockdown, mit dem das Einhalten von räumlichem Abstand durchgesetzt werden sollte, hatte genau das Gegenteil bewirkt: Verdichtung in unvorstellbarem Ausmaß.  

Das gilt auch innerhalb der indischen Städte. Die Straßen mögen menschenleer sein, doch die Armen sind in beengten Unterkünften in Slums und Baracken eingesperrt.  

Jeder, der unterwegs mit mir sprach, machte sich Sorgen wegen des Virus. Doch es war weniger real und in ihrem Leben weniger präsent als drohende Arbeitslosigkeit, Hunger und Polizeigewalt. Unter all den Menschen, mit denen ich an jenem Tag redete – darunter auch eine Gruppe muslimischer Schneider, die vor wenigen Wochen ein gegen Muslime gerichtetes Pogrom überlebt hatten –, gab es einen Mann, dessen Worte mir besonders nahegingen. Er hieß Ramjeet und war Schreiner, und er hatte vor, ganz bis nach Gorakhpur an der Grenze zu Nepal zu gehen. "Vielleicht hat niemand Modi von uns erzählt, als er das hier entschieden hat. Vielleicht weiß er nicht von uns", sagte er. "Uns", das sind rund 460 Millionen Menschen.  

Nichts wäre schlimmer, als wieder zur Normalität zurückzukehren

Die Bundesstaaten haben (wie in den USA auch) in der Krise mehr Herz und Verständnis gezeigt als die Zentralregierung. Gewerkschaften, Privatleute und hilfsbereite Gruppen verteilen Nahrungsmittel und Notverpflegung. Die Regierung in Delhi reagiert nur langsam auf ihre verzweifelten Bitten um finanzielle Unterstützung. Wie sich herausstellte, hat der Nationale Hilfsfonds des Premierministers keine flüssigen Mittel zur Verfügung. Stattdessen strömt Geld von Wohltätern in einen etwas mysteriösen neuen "PM CARES"-Fonds. Es sind abgepackte Mahlzeiten aufgetaucht, die Modis Konterfei tragen. Außerdem teilte der Premierminister seine Yoga-Videos. Darin führt ein computeranimierter Modi mit Traumfigur Asanas, Yoga-Haltungen, vor, die Menschen helfen sollen, mit der Belastung durch die Selbstisolation fertigzuwerden. Dieser Narzissmus ist zutiefst beunruhigend. Vielleicht könnte eine der Asanas ja eine Anfrage-Asana sein, mit der Modi beim französischen Premierminister anfragt, ob wir vielleicht von der überaus bedenklichen Vereinbarung über den Kauf von Rafale-Kampfflugzeugen zurücktreten und stattdessen die 7,8 Milliarden Euro für dringend benötigte Soforthilfemaßnahmen verwenden können, um mehreren Millionen hungriger Menschen zu helfen. Dafür hätten die Franzosen doch sicher Verständnis.  

Unterdessen, in der zweiten Lockdown-Woche, sind Versorgungsketten unterbrochen, Medikamente und lebensnotwendige Güter werden knapp. Tausende Lkw-Fahrer sind auf den Fernstraßen gestrandet und haben nur wenig Wasser und Essen. Ernten müssten eingebracht werden und verfaulen langsam. Die Wirtschaftskrise ist da. Die politische Krise geht weiter. Die tonangebenden Medien haben Covid in ihre unaufhörliche bösartige Kampagne gegen Muslime integriert. Die islamische Organisation Tablighi Jamaat, die vor Verhängung des Lockdowns ein Treffen in Delhi abgehalten hatte, stellte sich als "superspreader" heraus. Dies wird ausgenutzt, um Muslime zu stigmatisieren und zu dämonisieren. Es wird suggeriert, Muslime hätten das Virus erfunden und in einer Art von Dschihad vorsätzlich verbreitet.   

Die Covid-Krise steht uns noch bevor. Oder auch nicht. Wir wissen es nicht. Wenn sie kommt, können wir sicher sein, dass man sie angehen wird – mit denselben Vorurteilen zu Religion, Kasten und gesellschaftlichen Schichten wie eh und je. Die Meinungen der Experten über die bevorstehende Verbreitung des Virus gehen weit auseinander. Einige prognostizieren mehrere Millionen Fälle. Andere glauben, dass die Zahlen deutlich geringer ausfallen. Vielleicht werden wir das wahre Ausmaß der Krise niemals kennen, auch dann nicht, wenn sie eintritt. Wir wissen nur, dass der Ansturm auf die Krankenhäuser erst noch kommt.  

Die staatlichen Krankenhäuser Indiens sind schon mit den fast eine Million Kindern überfordert, die jedes Jahr an Durchfall und Mangelernährung sterben, mit den Hunderttausenden Tuberkulose-Patienten (ein Viertel aller Fälle weltweit), mit einer riesigen Bevölkerungsgruppe, die aufgrund von Anämie und Mangelernährung gefährdet ist, weil zahlreiche leichte Erkrankungen bei ihr tödlich verlaufen können. Mit einer Krise, die auch nur annähernd ein Ausmaß annimmt wie derzeit in Europa oder den USA, können die Kliniken unmöglich fertigwerden. Die gesamte normale Gesundheitsversorgung ist mehr oder weniger stillgelegt, denn die Krankenhäuser wurden für das Virus reserviert. Das Traumazentrum des renommierten All India Institute of Medical Sciences in Delhi ist geschlossen, mehrere Hundert Krebspatienten, die sogenannten Krebsflüchtlinge, die um das riesige Krankenhaus herum auf den Straßen leben, wurden wie Vieh vertrieben.  

Es werden Menschen zu Hause krank werden und sterben. Ihre Geschichten werden wir vielleicht nie hören. Vielleicht schaffen sie es nicht einmal bis in die Statistiken. Wir können nur hoffen, dass die Studien stimmen, nach denen das Virus kaltes Wetter mag (was allerdings andere Wissenschaftler bezweifeln). Nie zuvor hat sich ein Volk so irrational und so sehr nach einem brennend heißen, brutalen indischen Sommer gesehnt. 

Was ist die Sache, die uns da passiert ist? Es ist ein Virus, ja. Für sich allein steckt darin noch kein moralischer Auftrag. Aber es ist definitiv mehr als ein Virus. Einige glauben, dass Gott uns auf diese Weise zur Vernunft bringen will. Andere, dass es eine Verschwörung der Chinesen ist, die die Weltherrschaft übernehmen wollen.

Was auch immer es ist, das Coronavirus hat die Mächtigen in die Knie gezwungen und die Welt zum Stillstand gebracht, wie nichts sonst es vermocht hätte. Unsere Gedanken rasen noch immer hin und her, der Verstand sehnt sich nach einer Rückkehr zur "Normalität", versucht unsere Zukunft mit unserer Vergangenheit zu vernähen und weigert sich, den Riss wahrzunehmen. Aber der Riss ist da. Und inmitten dieser furchtbaren Verzweiflung gibt er uns eine Chance, noch einmal über die Weltuntergangsmaschine nachzudenken, die wir für uns gebaut haben.  

Nichts wäre schlimmer, als wieder zur Normalität zurückzukehren. In der Geschichte haben Seuchen Menschen gezwungen, mit der Vergangenheit zu brechen und sich ihre Welt neu zu entwerfen. Das ist bei dieser Pandemie nicht anders. Sie ist ein Portal, ein Tor zwischen einer Welt und der nächsten.  

Wir können uns entscheiden, hindurchzugehen und dabei die Kadaver unserer Vorurteile und unseres Hasses hinter uns herzuschleppen, unsere Habgier, unsere Datenbanken und toten Ideen, unsere toten Flüsse und verqualmten Himmel. Oder wir können leichten Schrittes hindurchgehen, mit wenig Gepäck, bereit dazu, uns eine andere Welt vorzustellen. Und bereit, für sie zu kämpfen.  

© Arundhati Roy 2020.

Auf Englisch erschienen in der "Financial Times" vom 4. April

Aus dem Englischen von Bettina Röhricht