Jetzt ist schon am Vormittag bei der Familie Geschrei zu hören. Vor der Corona-Krise ging es erst immer ab 16 Uhr los, wenn die Kinder von der Schule kamen. Es dringen regelmäßig unbeholfenes lautstarkes Meckern und Beschuldigungen von der Wohnung bis auf die Straße. Dank Schulschließung hört man es jetzt zu jeder erdenklichen Uhrzeit. Die heftigen Streitereien der Familie aus dem 4. Stock häufen sich und drehen sich dank Corona um einige neue Ängste und Bedrängnisse. Dass das Zuhausebleiben - vor allem in Arbeitervierteln - zuweilen richtig scheiße sein kann, liegt an mehreren Punkten. Und all diese Punkte haben ausnahmslos mit bestimmten Privilegien zu tun, die sich die Arbeiterklasse nicht leisten kann.


Einen sicheren Arbeitsplatz? Fehlanzeige. Viele Eltern wurden in Kurzarbeit geschickt und erhalten beispielsweise nur noch 60% des Gehalts und die Familie leidet. Weniger essen? Die Miete nicht zahlen können? Kurzarbeit hat nur negative Folgen für Menschen, die auf den monatlichen Geldfluss angewiesen sind.
In der Schule haben die Kinder regelmäßig gemeinsam ausgewogen zu Mittag gegessen. Ob das jetzt, gerade in Zeiten der Geldknappheit der Fall ist, ist leider nicht klar.
Einige Eltern sind unverhofft arbeitslos geworden. Das heißt, dass Familien Daheim sitzen und sich zu der Armut eine weitere Stresssituation gesellt: Zukunftsangst. Wie reagieren die arbeitslos gewordenen Familienmitglieder? Gibt es einen Hang zu Suchterkrankungen in Krisen? Da alle aufeinander hocken müssen, können die Betroffenen und ihre Angehörigen sich nur schwer aus dem Weg gehen, um der eigenen Verzweiflung Ausdruck zu verleihen.
Damit zeigt sich der nächste kritische Punkt: Die Wohnungen in Arbeitervierteln sind generell klein. Und da die Mieten überall ziemlich teuer sind (und es generell schwer ist eine passende Wohnung zu finden), ist klar, dass gerade große Familien gelernt haben sich wenige Quadratmeter zu teilen. Wo regelmäßige Verabredungen im Familien- und Freundeskreis, oder der Ausflug auf Spielplätze zu einem Tapetenwechsel geführt haben, ist heute nur noch die Qual des Aufeinanderhockens zu spüren. Klar, knallt es da mal, wenn es keine Ruhe zu Hause, Toberei, Zankerei und Streiterei gibt. Nicht selten herrscht dieses Chaos auch noch in einer vernachlässigten Wohnung in einem schlechten baulichen Zustand. Zu Schul- und Arbeitszeiten mussten Arbeiter und Kinder nicht den ganzen Tag in der Schimmelwohnung verbringen, jetzt sind sie gezwungen das auszuhalten und es ist beschissener denn je.
Wenn die Bullen draußen die Spielplätze kontrollieren, aber man zu Hause einfach nicht ausreichend Spielgeräte hat, ist man auch am Limit. In der Schule wurde den Kindern der Schulhof geboten, vielleicht einzelne Spiele in der Klasse, der halbe Tag wurde in der Schule von Erwachsenen kindgerecht gestaltet.
Unangenehm wird es jetzt, wenn der Klassenlehrer in den Familien anruft, um zu erfahren wie viele Laptops, Tablets und Smartphones sich im Haushalt befinden, oder, ob man Internet aus der Dose hat. Nicht jeder kann sich die 19,90 Euro leisten. Jetzt müssen die Eltern damit blank ziehen, wenn spontan auf Online-Unterricht umgestellt werden soll.
Mama und Papa streiten sich. Sie hocken ja jetzt auch mehr als sonst aufeinander - ohne was Schönes zu machen, wie zum Beispiel einen Familienausflug. Aber wie wurden die Familien auf diese Situation vorbereitet? Gar nicht! Vorher bot der Arbeitsalltag auch keine Zeit für Behutsam miteinander umgehen, kreativ den Alltag gestalten, Basteln, Spaß haben, mal was als Familie unternehmen oder mit dem Auto in den Wald fahren. Welcher Wald? Da sowieso kein Auto in vielen Arbeiterfamilien vorhanden ist oder man die fehlende Kohle nicht für Sprit verschwenden kann, ist das auch keine Möglichkeit, um ein bisschen Erholung in das Familienleben zu bringen.
Dann lieber die Schulaufgaben machen, die der Lehrer durchgegeben hat? OK, ist das Internet vorhanden, oder liegen Arbeitsmaterialien zu Hause, können sich die Kinder selber ans Werk machen. Aber was ist, wenn die Arbeiterkinder bei einigen Problemen nicht weiterwissen? Hallo, bei uns hier unten haben die meisten nicht deutsch als Mutterspreche. Also sieht es so aus, dass die Schulkinder oft niemanden haben, den sie bei bestimmten Problemen fragen können.
Die Kinder von akademischen Kleinbürgern haben während der herbeigeführten Corona-Krise in der Regel keines der Probleme eines Arbeiterkindes. Denn klipp und klar, bevorzugt diese Krise mal wieder die, die sowieso im Alltagsluxus baden: Die Eltern haben einen sicheren Arbeitsplatz, kennen ihre Rechte und sind eloquent genug darum zu kämpfen. Meist befindet sich Besitz in der Familie, was angehäuftes Geld für Krisenzeiten bedeutet, auf das zurückgegriffen werden kann. Für Essen auf dem Tisch ist somit standardmäßig gesorgt. Das Leben und sich selbst im Griff haben, wurde von Bourgeoisiefamilien manchmal sogar durch Ratgeber und in Seminaren gelernt und trainiert. Als Kind in solche einem Haushalt während der Corona-Krise klarzukommen ist leichter, als bei den Arbeitern. Außerdem stehen gutbürgerliche Kinder das meist in einer Wohnung durch, die groß genug ist und zumindest einen Balkon, wenn nicht sogar einen Garten aufweist. Der Spielplatz wird nicht unbedingt notwendig, wenn Spielgeräte in der Familie vorhanden sind. Hier ist alles top! Schon vor der Krise war nämlich genug Zeit und Energie da, um sich darum zu kümmern. Selbstverständlich ist das vom Lehrer angeforderte iPad vorhanden und das Kind sitzt schon davor und lernt mit guter Unterstützung der Eltern. Entspannt wird dann in der Natur am Stadtrand, in die die Familie mit Kohle bedenkenlos mit ihrem Wagen fährt. Die Kinder der Mittelschicht haben jetzt gegebenenfalls eine aufregende Zeit.
Im Gegensatz dazu erleben Arbeiterkinder dieses Theater als eine bedrängende Realität. Eingesperrt zwischen den Ängsten der Eltern mit billigem Fraß auf dem Tisch. Kein Durchatmen, wenig verschiedene Spielanregungen und das Verpassen von relevanter Lernzeit, weil da keiner ist, der ihnen hilft. Das ist eine Last die die Arbeiterkinder nun tragen müssen. 2020 wird immer das Jahr gewesen sein in dem sie zu Hause in der Familie eingesperrt wurden. Jetzt ist die Zeit in der der Mangel den das System den Arbeiterfamilien aufgedrückt, den Arbeiterkindern als Backpfeife zurückschellt. Die globale Strategie der kapitalistischen Staaten hat auch noch die Eltern arbeitslos gemacht und die Kinder sind gezwungen diese Scheiße ohne viele Beschäftigungsmöglichkeiten, aber doch mit so vielen Anforderungen, aushalten zu müssen.